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Nebelmond

Nebelmond

 

Sie hatten die alten Namen für den November im Deutschunterricht durchgenommen. Und heute machte er seinem Namen wahrlich Ehre.

 

Sigrid versuchte, durch die dicke Wand aus kleinsten Wassertropfen den Weg zu erkennen.

Er führte sie auf den alten Friedhof, auf dem schon lange niemand mehr begraben wurde.

Es war der Abend zu Samhain, an dem die Schwelle zum Jenseits besonders durchlässig sein soll, und niemand kam des Nachts freiwillig hierher. Aber heute hatte sie die Chance zu beweisen, dass sie sich wirklich nicht fürchtete, nicht vor Geistern und schon gar nicht vor den armen Seelen, die hier ihre letzte Ruhe gefunden hatten.

„Große Töne spucken kann jeder! Und vergiss die Beweisfotos nicht!“, hatte Andy, der Anführer ihrer Clique gefordert.

 

Das rostige Eisentürchen klemmte und ließ sich nur mühsam öffnen. Nein, es quietschte nicht! Auch so ein dämliches Klischee aus Gruselfilmen. Fast hätte Sigrid laut darüber gelacht, es war einfach zu nass zum Quietschen. Der Nebel hatte sich feucht auf ihre Kleidung gelegt und sie fröstelte. Vor ihr tauchten die ersten Kreuze und Gedenksteine auf. Einer nach dem anderen, um gleich wieder in der Nebelsuppe zu verschwinden. Sigrid schaltete die Taschenlampenfunktion ihres Smartphones an. Gleißend weißes Licht hüllte sie ein und ließ die Nebelschicht um sie noch kompakter erscheinen. Wie sollte sie so Fotos machen? Sie wählte den Nachtmodus in den Fotoeinstellungen. Vor einem verwitterten Grabstein ging sie in die Hocke und schoss ein paar Selfies.

 

Tapfer ging sie weiter. Der Untergrund hatte sich verändert und ihre Schritte knirschten leise im feinen Kies. Nur ihre Schritte? Sie blieb abrupt stehen, aber das Knirschen klang den Bruchteil einer Sekunde nach. Angestrengt lauschte sie. Stille. Der herbe Duft eines Aftershaves stieg ihr in die Nase. In ihrem Nacken kribbelte es und ihre Lippen fühlten sich pelzig an. Langsam drehte sie sich um.

„Schlachtmond, ein weiterer Name für den November“, schoss es ihr durch den Kopf. Das Handy fiel aus ihrer Hand.

 

Die Polizei ermittelte im familiären Umfeld und im Freundeskreis. Den entscheidenden Hinweis auf ihren vermeintlich letzten Aufenthaltsort, erhielt sie aber von Sigrids Clique, die das schlechte Gewissen plagte. 

 

Im Dorfladen munkelte man, sie hätte den Täter fotografiert. Auf einem Selfie der Vermissten, sei eine verschwommene Gestalt hinter einem Grabstein zu erkennen.