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Blue Moon

„Blue Moon“ 

Lockdown. Keine grölenden Monster-Trupps, die durch die Straßen ziehen, um Halloween zu feiern und an den Türen laut fordernd, „Süßes oder Saures“ zu schreien.

Es ist die Nacht auf Allerheiligen oder Samhain, wie es die Kelten nannten.

Jetzt schwärmen die Totengeister aus und bitten um Gaben. Gewährt man sie, so stimmt man sie milde, ansonsten suchen sie uns mit ihrem Spuk heim.

Ein guter Zeitpunkt den Liebsten nahe zu sein, denn die Schwelle zum Totenreich ist geöffnet.

 

Langsam und bedächtig geht Claire durch den parkähnlichen Garten. Eingehüllt, in ihr langes dunkelblaues Cape aus Wolle, bildet sie eine Einheit mit der Nacht, die früh hereingebrochen war. Am Grab ihrer Mutter kniet sie beschwerlich nieder und streicht mit dem Langholz an der Reibefläche der Schachtel entlang. Der markante Geruch des Zündholzes steigt ihr in die Nase. Mit zittriger Hand hält sie die Flamme an den Docht der Kerze, die in einer Laterne steht. Ein warmer Lichtkegel breitet sich aus und erhellt den noch immer grünen Waldmeister, der als Bodendecker das Naturgrab überwuchert. Kein Kreuz, kein Gedenkstein lässt ahnen, dass sich hier eine Grabstätte befindet.

 

Lautlos schwebt eine Eule über Claires Kopf hinweg und lässt sich im mächtigen Walnussbaum nieder, der seine ausgedünnte Blätterkuppel wie einen riesigen Schirm über das Gelände spannt. Ein kehliges „Huh-Huh“ ist zu vernehmen. Claire lächelt, fasziniert von dem Nachtvogel, dessen Symbolik für Weisheit und Klugheit steht. Dass man ihn als Unglücks- oder gar Todesvogel bezeichnet, ist ihr unbegreiflich.

Sie wendet ihre Gedanken wieder ihrer verstorbenen Mutter zu. Lautlos teilt sie ihre Bedenken und Sorgen und lässt ihre ungebrochene Liebe ihrem Geist entströmen. Wärme erfüllt ihren Körper und die Erkenntnis nicht allein zu sein, erfasst ihre Seele.

Ein Rascheln im Laub, das der Baum bereits abgeworfen hat, weckt ihre Aufmerksamkeit. Ein Igel taucht im Schein der Laterne auf, um gleich wieder in der Dunkelheit zu verschwinden.

 

Claire schaut hoch zum Himmel. Zwischen den schwarzen Wolkenfetzen glitzern einige Sterne. Und dann zeigt er sich. Voll und bleich, vielleicht tatsächlich ein wenig bläulich, bildet sie sich ein. Der zweite Vollmond im Monat, ein Phänomen, das nur alle paar Jahre auftritt und im Volksmund „blauer Mond“ genannt wird.

„Wie spannend, dass dieses Ereignis heute mit Samhain zusammenfällt“, denkt sie und schließt die Augen.

 

Die Nacht ist friedvoll und der Igel schnuppert ein weiters Mal an der Laterne vorbei. Der Ruf der Eule hallt erneut durch die Stille. Claire hört es nicht mehr.  Sie hat die Schwelle auf die andere Seite der Welt überschritten.