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Die Schönheit des Todes

Die Schönheit des Todes 

 

Oma Hilde saß mit einem Buch in ihrem Lehnsessel. Alle nannten sie so, obwohl sie keine Enkelkinder hatte. Durch das Fenster im Gemeinschaftssaal schaute sie auf die Weinberge. Die Trauben waren gelesen, nur wenige Zeilen ausgespart, um nach einer Frostnacht den erlesenen Eiswein keltern zu können.

 

Ihr ganzes Leben war sie im Weinbau tätig gewesen. Erst im Familienbetrieb, um dann, nach dem Tod der Eltern das Erbe in ihrem Sinne weiterzuführen. Es war ihr nicht vergönnt, die große Liebe kennenzulernen, und so war sie lieber unverheiratet geblieben. Um auf der letzten Etappe ihres Lebens versorgt zu sein, hatte sie das Weingut vor einem Jahr verkauft. Schweren Herzens, aber immerhin konnte sie sich dadurch die bessere Variante eines Altenheimes leisten.

 

Sie liebte den Herbst. Nicht nur in Erinnerung an die Traubenlese, sondern wegen der einzigartigen Farbenpracht, die die Natur Jahr für Jahr hervorzauberte. Man konnte darüber leicht vergessen, dass es ein Akt des Sterbens war, wenn die Bäume den Blättern das Grün entzogen, um sie wenig später abzuwerfen. Aber wie viel Freude konnte mit dem Herbstlaub einhergehen!

 

Sie beobachtete eine Katze, die im Garten der Residenz umherstreifte, um einzelnen Blättern nachzujagen, die der Wind durch die Luft wirbelte. Scheinbar fixiert auf ihr Spielzeug, schreckte sie plötzlich zusammen und huschte über den kleinen Gartenzaun davon.                  Oma Hilde beugte sich ein wenig vor, um zu schauen, was die Fellnase vertrieben hatte.

 

Da kamen schon die ersten Mädchen um die Ecke, die den Tross Kindergartenkinder anführten. Ihre gefassten Hände schaukelten bei jedem Schritt fröhlich vor und zurück. Sie trugen Plastiktüten, die im Wind flatterten. Unter den Bäumen im Park machte die Gruppe halt. Die Erzieherinnen zeigten auf die große Eiche und schienen etwas zu erklären. Danach sammelten die Kinder eifrig die schönsten Blätter und Früchte vom Boden, wobei sie jedes Teil einer genaueren Prüfung unterzogen.

 

Oma Hilde erinnerte sich an ihre Kindheit, als sie mit bunten Blättern, Eicheln und Bucheckern, herbstliche Bilder gebastelt hatte.

 

Manches änderte sich Gott sei Dank nie. Sie schaute auf das Buch in ihrer Hand und schlug es in der Mitte auf. Ein sorgfältig gepresstes Weinblatt, in den Rottönen des Herbstes, lag zwischen den Seiten. Die Farben, wie sie selbst, schon ein wenig verblasst.