Leseprobe "Das magische Klavier"

Kapitel 1

Mit Wucht knallte Julia Lüttke die Tür ihres Kleiderschranks zu. Sie raffte die Locken zu einem Zopf, um Luft an ihren verschwitzten Nacken zu lassen. So konnte es unmöglich weitergehen. Sie musste mit dem ständigen Einkaufen aufhören. Mit verkniffenem Mund starrte sie auf die Spiegeltür, hinter der die Handtasche von Chanel lag, die sie in ihrem Lieblings-Secondhand-Laden erstanden hatte. Unter dem perfekt aufgetragenen Make-up sah Julia die wächserne Blässe in ihrem Gesicht. Zwei Augen blickten sie müde an. Sie warf sich ein schiefes Grinsen zu. Das euphorische Shopping-Gefühl verflog wie immer, sobald sie mit den Einkaufstaschen den Laden verlassen hatte. Ihr Vater, ein Bänker, wäre entsetzt, wüsste er, was sie da trieb. Adoptivvater, korrigierte sie sich. Folglich konnte sie gar keine Bänkergene haben. Sie warf einen verstohlenen Blick auf den Amazon-Karton mit den High Heels, der neben ihrer Chaiselongue im Ankleidezimmer stand. Das Logo grinste sie höhnisch an. Eine weitere unnötige Errungenschaft, musste sie zugeben. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass sie farblich perfekt zur Handtasche passten. Frustriert schlurfte Julia ins Wohnzimmer. Dort fuhr sie den Laptop hoch und öffnete die Onlineseite ihrer Bank. Es war noch schlimmer, als sie gedacht hatte. Schnell klappte sie ihn wieder zu und legte eine Wange auf den kühlen Deckel. Traurig fiel ihr Blick auf den Flügel, der in der Zimmerecke stand. Sie nahm daran Platz, um ein letztes Mal zu spielen, bevor die Transportfirma ihn mitnahm. So würde sie wenigstens einen Teil ihrer Schulden bezahlen können. An der ganzen Misere war nur Andreas schuld, dachte sie ärgerlich und ein bisschen mit Wehmut. Tränen verschleierten ihren Blick. Die Wohnung erschien so leer, seit ihr Lebensgefährte sie verlassen hatte. Zu ihrem Glück war das Appartement möbliert. Er hatte nur seine persönlichsten Sachen mitgenommen. Julia gab ihrem Frust in Mozarts Sonate Nr. 16 in C-Dur Ausdruck, bevor sie die eher ruhig anmutende Sonate Nr. 11 in A-Dur anstimmte. Die klassischen Melodien lösten die Enge in ihrer Brust. Julias Finger flogen über die Tasten und sie versank vollkommen in ihrem Spiel. Die Klänge trugen all ihre Ängste davon, als die Türglocke sie aus ihren Träumen riss. 

 

Sie begleitete die Männer, die den Flügel nach unten schafften, bis vor die Haustür. Schnell unterschrieb sie den Transportschein und schlüpfte zurück in den Hauseingang, denn sie konnte nicht mit ansehen, wie ihr geliebtes Instrument im Schlund des Lastwagens verschwand. Schon mal unten, sah sie nach der Post. Seit alles online verschickt wurde, führten die Blechkästen ein einsames Dasein. Sie staunte, als ihr gleich zwei Briefumschläge entgegenpurzelten. Im Aufzug las sie die Absender. Wie befürchtet hatte die Hausverwaltung eine weitere Mahnung geschickt. Der braune Din-A5 Umschlag war von einem Notariat, frankiert mit französischen Briefmarken. Sie hatte keine Ahnung, was ein Notariat in Frankreich von ihr wollte. Die Stille und die leere Ecke, wo der Flügel gestanden hatte, waren kaum zu ertragen. Achtlos warf sie die Post auf den Tisch. Heute fühlte sie sich neuerlichen Hiobsbotschaften nicht gewachsen. Entschlossen, diesen zu entgehen, legte sie ihre Lieblings-CD auf, wendete sich dem Weinschrank zu und wählte eine perfekt temperierte Flasche Bordeaux. Auch ein Überbleibsel aus der Zeit mit Andreas. An seiner Seite war sie die makellose Frau, ein Aushängeschild par excellence. Im Gegenzug durfte sie fast uneingeschränkt über seine Kreditkarte verfügen. Keine sonderlich tiefgründige Beziehung, aber als er sie vor vier Wochen für seinen Traumjob in den Staaten fallen ließ, war sie doch geschockt gewesen. Sie trank einen großen Schluck und spülte den bitteren Geschmack weg, den die Gedanken auf ihrer Zunge hinterlassen hatten. Mit dem nächsten würgte sie ihre Tabletten hinunter.

»Scheiß’ auf die Gesundheit.« Julia griff zum Smartphone und bestellte ihre Lieblingspizza. »Wenn schon, denn schon.« Genüsslich fläzte sie sich in die Kissen der Wohnlandschaft. Während Julia auf den Pizzaboten wartete, löschte sie sämtliche Erinnerungen an Andreas auf dem Handy. 

 

 

Am Morgen erwachte sie mit Kopfschmerzen, die sie mit einer Tablette, Wasser und einem starken Kaffee bekämpfte. Seufzend öffnete sie beim Frühstück die Briefe, die sie nicht länger ignorieren konnte. Das Lesen der Mahnung führte erneut zu einem ziehenden Schmerz in ihrer linken Schläfe. Genervt legte sie das Papier zur Seite. Der Umschlag aus Frankreich dagegen machte sie neugierig. Notariat Benoît Schmitt, Rendez-vous am … Julias Blick huschte zum Wandkalender in ihrer Küche. Sie kniff angestrengt die Augen zusammen, nur um sie sogleich weit aufzureißen. Heute. Der Termin war heute. Schnell las sie weiter und atmete erleichtert auf. Ihr Unterricht ging bis dreizehn Uhr. Genügend Zeit, sich frisch zu machen, bevor sie den Termin im Elsass wahrnahm. 

 

Auf dem Weg in die Schule hämmerte es hinter ihrer Stirn unvermindert weiter. Vor dem Lehrerzimmer lehnte Georg an der Wand, das Handy lässig am Ohr, die andere Hand in der Hosentasche vergraben. Als er Julia sah, grinste er süffisant und beendete das Gespräch. 

»Einen wunderschönen guten Morgen.« Schwungvoll stieß er sich ab und verstellte damit den Zugang zur Tür. Er legte den Kopf schief. Mit hochgezogenen Augenbrauen inspizierte er ihr Gesicht. »Es scheint, der Abend war schöner als der Morgen. Kopfschmerzen?« 

Julia wischte die feuchten Hände an der Jeans ab und schnappte nach Luft. Bevor sie eine passende Antwort parat hatte, glitt Georg wie ein öliger Fisch zur Seite und hielt die Tür auf. Mit einer einladenden Geste ließ er ihr den Vortritt. Sie nickte den anderen Kollegen nur kurz zu und packte das Unterrichtsmaterial für die erste Stunde zusammen. Julia versuchte, ruhig durchzuatmen. Sie unterdrückte den Zwang, sich nach Georg umzuschauen. Bildete sie sich das nur ein oder spürte sie seinen Blick in ihrem Nacken? Seine penetrante Art hatte etwas Besitzergreifendes. Konnte er sie nicht in Ruhe lassen? Simone, die Englisch in der achten Klasse unterrichtete, kam aus dem Kopierraum und trat zu Julia an den Tisch, um den Papierstapel in die Tasche zu stopfen. »Wollen wir?«, fragte sie. 

Julia nickte. Gemeinsam begaben sie sich zu den Klassenzimmern im ersten Stock. Die Kinder lenkten Julia ab, aber als es zur Pause klingelte, verkroch sie sich im Klassenzimmer, denn ihre tägliche Ration Georg hatte sie schon bekommen. Gut, dass sie heute keine Aufsicht hatte. Sie öffnete ein Fenster und sah in Georgs Gesicht, der grinste und zu ihr hinaufstarrte. Schnell wandte sie sich ab. Ihr Magen verknotete sich schmerzhaft. Georgs smarte Erscheinung hatte unter den weiblichen Kolleginnen von Anfang an für Furore gesorgt. Julia kannte einige, die darauf brannten, mit ihm auszugehen. Bei ihr löste er nur Übelkeit aus. Sie verstand nicht, warum er ausgerechnet hinter ihr her war. Hoffentlich traf sie diesen Idioten nach Schulschluss nicht noch einmal. 

 

Als es final klingelte, begab sich Julia in den Kopierraum, der einer Besenkammer glich und sich im hinteren Teil an das Lehrerzimmer anschloss. Eng, erdrückend warm und ohne Fenster, käme niemand auf die Idee, die Tür zu  schließen. Sie starrte auf die DIN-A4 Seiten, die der Apparat laut ratternd ausspuckte. Durch die geöffnete Tür hörte sie vage das Stimmengewirr der Kollegen. Der Kopiervorgang stoppte abrupt und die Anzeige ‚kein Papier‘ leuchtete auf. Georgs Stimme brach durch die Stille und Julia erstarrte. Sie hatte gehofft, er sei schon gegangen. Mucksmäuschenstill stand sie mit dem Rücken zur Wand und lauschte. Der Atem kam ihr unnatürlich laut vor. Sie hörte, wie sich jemand näherte und dann einen dumpfen Aufprall, als wuchtete wer einen Stapel Bücher auf einen Tisch. Hoffentlich wollte Georg nicht auch kopieren! Die Schritte entfernten sich. 

»Also, bis Montag. Schönes Wochenende allerseits.« Julia atmete aus. Ihr Verhalten war lächerlich. Schnell legte sie frisches Papier in die Kassette und setzte den Kopierer wieder in Gang. Sie würde Georg einen ausreichenden Vorsprung geben. Nur nicht zu lange, mahnte sie sich. Am frühen Nachmittag war der Termin in Neuf-Brisach. Zum Glück musste sie nicht weiß Gott wohin fahren. Der Ort lag direkt hinter der französischen Grenze, die man in Alt-Breisach überqueren konnte. Sie räumte den Stapel Kopien in ihr Fach und packte die Tasche, während sie sich immer wieder fragte, was sie im Notariat erwarten würde. Dann löschte sie das Licht und schloss ab. Eilig sprang sie die Schultreppe hinunter, bog um die Ecke und landete in Georgs Armen. 

»Da pressiert aber jemand.« Geschickt manövrierte er sie gegen die Wand. Eingekeilt zwischen seinen abgestützten Armen presste sie ihre Tasche an die Brust. Sie schluckte. Verdammt, was wollte der Kerl von ihr? »Wie wäre es mit einem Mittagessen beim Italiener hier um die Ecke? So zum Start ins Wochenende?« Julia starrte in seine grauen Augen. Sein herbes Aftershave stieg ihr in die Nase und weckte Erinnerungen. Trug er den gleichen Duft wie Andreas? »Was ist?« Er musterte sie erwartungsvoll. In dem Moment kam Isabelle um die Ecke. Sie stierte zu ihr herüber. »Oh, lasst euch nicht stören. Schönes Wochenende.« Sie warf ihnen einen süffisanten Blick zu, aber Julia war der grimmige Zug um ihre Lippen nicht entgangen. War sie etwa neidisch? Sie konnte ihn gern haben. Georg sah ebenfalls zu Isabelle. Schnell duckte Julia sich unter seiner Barriere hindurch. »Nein, danke«, sagte sie mit fester Stimme. »Ich habe einen Termin und außerdem …« Warum in aller Welt rechtfertigte sie sich vor diesem Typen? »Sorry, aber heute passt es gar nicht.« 

»Dann vielleicht am Abend? Neunzehn Uhr? Ich hole dich ab.« 

»Georg …« Sie rang nach Fassung. »Ich habe weder Zeit noch Interesse.« Seine Augen wurden dunkel. Er verzog den Mund. Scheinbar war er Widerspruch nicht gewohnt. Julia sah, dass er sich um Beherrschung bemühte. Unwohlsein zog ihre Lendenwirbel hinauf. War sie zu deutlich geworden? Hatte sie an seiner Ehre gekratzt? Verdammt, er scherte sich einen Dreck um die Ihre. Wie auch immer. Sie hatte den Termin. Davor musste sie sich noch frisch machen. Sie wandte sich ab, spürte, wie sich Georgs Blick in ihren Rücken bohrte – und schauderte. 

 

Julia parkte im Zentrum von Neuf-Brisach auf dem Marktplatz, der früher als Exerzierplatz diente. Anfang des achtzehnten Jahrhunderts hatte Vauban, der Festungsbaumeister Ludwigs XIV., die Stadt in Form eines Achtecks erbaut. Ein schachbrettförmig angelegtes Straßennetz säumte den Markt. Julia war für ihr Navigationssystem dankbar, denn in der imposanten Anlage aus Mauern, Gräben und Toren hätte sie sich mit Sicherheit verfahren. Sie blieb einen Augenblick unter der Plakette stehen, die über dem Eingang des Notariats befestigt war. Die Sonne spiegelte sich in dem goldenen Oval mit den Insignien der politischen Macht. 

In der kleinen Empfangshalle fühlte sie sich in eine andere Zeit versetzt. Die antiken Möbel mit geschnitzten Verzierungen in dunklem Holz wirkten respekteinflößend und der etwas muffige Geruch nach Bohnerwachs verstärkte dieses Gefühl. Als die Dame hinter dem Empfang sie ansprach, zuckte Julia leicht zusammen. Sie machte ihre Angaben mit gedämpfter Stimme und ließ sich in den Warteraum führen. Kurz darauf erschien ein gedrungener Mann im Anzug und reichte ihr die Hand. 

»Madame Lüttke? Ich bin Benoît Schmitt. Wenn Sie mir bitte folgen wollen?« Vor seinem Büro ließ er Julia den Vortritt und bat sie, auf einem thronähnlichen Stuhl vor einem eindrucksvollen Schreibtisch Platz zu nehmen. Auf dem Tisch stapelten sich haufenweise Blöcke und lose Blätter, in denen der Notar zu suchen begann. Ein Stapel rutschte in sich zusammen und es war nur der schnellen Reaktion von Monsieur Schmitt geschuldet, dass er nicht zu Boden glitt. Julia musste an den Lieblingsspruch ihrer Schwester denken: »Nur das Genie beherrscht das Chaos.« 

Erneut wühlte er sich durch die Papierflut, bis er mit einem zufriedenen Grinsen fündig wurde und ihr das Testament einer Amalia Kraft vorlas. 

»Ich habe geerbt?« Fassungslos starrte sie den Notar an. Ihre Mundwinkel zuckten verdächtig, als könnten sie sich nicht entscheiden, ob sie sich zu einem Lächeln oder einer weinerlichen Schnute verziehen sollten. »Aber ich kenne keine Frau Kraft. Sind Sie sicher, dass es sich nicht um ein Missverständnis handelt?« Warum sollte eine Fremde ihr ein altes Schleusenhaus im benachbarten Elsass vererben? 

»Ich versichere, dass alles rechtmäßig ist. Leider kann ich keine weiteren Auskünfte erteilen, da meine Klientin über Stillschweigen verfügt hat. Ich soll Ihnen lediglich dies hier aushändigen.« Er überreichte Julia einen ausgebeulten Umschlag. 

Mit zittrigen Fingern förderte sie ein Schreiben mit der Adresse sowie einen abgenutzten Schlüssel mit einem Anhänger in Form eines Violinschlüssels heraus. Dieser zauberte ein Lächeln auf Julias Gesicht. Die Formalitäten waren schnell erledigt. 

Auf der Straße atmete sie kurz durch und zückte ihr Handy. »Marit? Hey, ich bin’s, Julia. Du, ich habe grandiose Neuigkeiten. Können wir uns treffen? Café Extrablatt sechzehn Uhr? Prima, ich freue mich.« Das war genau, was sie brauchte. Einen Cocktail und ein Treffen mit ihrer besten Freundin, die stets ihr Fels in der Brandung war. 

 

Julia betrat vor Marit das Café in Freiburg. Sie ergatterte einen Tisch auf der Terrasse mit Blick auf die Dreisam, die dieses Frühjahr ordentlich Wasser führte. Für April war es ungewöhnlich warm und die Außenplätze fast alle belegt. 

»Hey!« Marit warf ihre Jeansjacke über die Rückenlehne des Stuhls und umarmte Julia flüchtig. »Spann mich ja nicht auf die Folter. Ich platze vor Neugier.« Die Bedienung brachte Julias Virgin Mango Mojito, den sie bereits bestellt hatte, und sah Marit abwartend an. »Für mich das Gleiche, bitte«, orderte sie mit einem kurzen Blick auf Julias exotisches Getränk. Als sie wieder allein waren, bohrte sie nach. »Also, was gibt’s so Spektakuläres?« 

»Ich habe geerbt. Genauer gesagt – ein Haus im Elsass.« Julia sog an ihrem Trinkhalm. Fasziniert genoss sie das Minenspiel ihrer Freundin. Marit öffnete den Mund und zog hörbar die Luft ein. Die Augenbrauen schossen nach oben. Die Servicekraft stellte das Getränk vor ihr ab. Marit murmelte ein Dankeschön. Dann wandte sie sich sofort wieder Julia zu. »Ein Haus? Im Elsass? In Frankreich? Von wem denn? Oh Gott: mein Beileid! Standet ihr euch nahe? Ich meine, um wen handelt es sich eigentlich?« 

»Niemand aus der Familie oder unserem Bekanntenkreis. Ehrlich gesagt: Ich kenne diese Frau gar nicht. Keine Ahnung, wer sie war und warum ich in die Gunst des Erbes komme. Der Notar war nicht befugt, eine nähere Auskunft zu geben. Letzter Wille und so …« Julia schob Marit den Umschlag über den Tisch, die ihn sofort öffnete. 

»Die Adresse und ein Schlüssel? Das ist alles?« 

»Ja. Und der Name natürlich: Amalia Kraft. Im Internet habe ich nichts über sie gefunden. Ist das nicht total aufregend?« 

»Was hast du vor?« 

»Na, schnellstmöglich verkaufen. Wenn es nicht die letzte Bruchbude ist, habe ich ein prima Startkapital für die Zeit nach Andreas. Ich muss aus der Wohnung raus.« 

»Schade, dass du es nicht als Ferienhaus behalten kannst. Wahrscheinlich bist du froh, wenn du nur eine Wohnung zahlen musst?« Julias Hals schnürte sich zusammen, sie zwang sich, kräftig zu schlucken. »Ich bin zwei Monatsmieten im Rückstand. Gestern lag wieder eine Mahnung im Briefkasten. Das Appartement ist viel zu groß und teuer, aber finde hier mal was Kleines, Günstiges. Alles nur wegen Andreas …« 

»Trauer bloß dem nicht mehr nach. Das ist der Kerl nicht wert. Du weißt ja, was ich von ihm halte?« 

Julia kräuselte die Nase und äffte den Gesichtsausdruck ihrer Freundin nach. »Gar nichts?« 

»Treffer!« »Aber ein angenehmes Leben hatte ich mit ihm schon. Zumindest in finanzieller Hinsicht …« 

» …und er hat dich für seine Zwecke als Aushängeschild benutzt. Julia, wach auf! Das war doch keine normale Beziehung und entspricht überhaupt nicht deiner Zukunftsvorstellung. Du bist jetzt achtundzwanzig. Wünschst du dir nicht eine kleine Familie, einen Partner, der dich wirklich liebt?« 

»Schon«, lenkte Julia ein, »aber der Mann muss erst noch gebacken werden.« »Prima, ich sehe mal, was ich in der Backstube für dich tun kann.« Marit prostete Julia mit einem Grinsen zu. 

»Und wann gehts los?« 

»Mit der Männersuche?« 

»Mit der Entdeckungsreise ins Elsass!« 

»Sobald ich gepackt und die wenigen Dinge, die Andreas mir überlassen hat, bei meinen Eltern untergestellt habe. Ich möchte die Osterferien nutzen, um mit dem Erbe alles Notwendige in die Wege zu leiten. Zwei Wochen müssten reichen, was denkst du? So lange verfüge ich sogar über ein Feriendomizil.« Sie dachte einen Moment über diese zusätzliche Option nach, bevor sie Marit wieder anstrahlte: »Wie siehts aus? Ich könnte beim Packen zwei fleißige Hände gebrauchen. Hast du schon was vor?« 

»Na, was für ein Glück, dass ich morgen frei habe. Sonntag bin ich nämlich eingeteilt. Ostergeschäft, du verstehst? Was gäbe es Schöneres, als mit meiner liebsten Freundin Kisten zu packen?« 

»Oh weh. Jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen. Ich verzeihe dir, wenn du deinen freien Tag anders verbringen möchtest.« 

»Ach was! Den Vormittag opfere ich gern, um dir den Schubs in eine neue Zukunft zu geben.« 

 

Julia betätigte die Taste: Erst pfeifend, dann ratternd, setzte sich der Drucker in Gang. Es schellte und sie eilte zur Tür. Marit schob sich in den Flur, sie hielt einen Stapel Umzugskartonagen in der Hand. »Du bist die Beste! Ich habe mich schon gefragt, wo ich so kurzfristig welche herbekommen soll. Warte, ich nehme dir ein paar ab. Kaffee?« 

»Unbedingt.« Marit ging ins Wohnzimmer und lehnte die Kartonagen an die Wand. Der Drucker spuckte das Papier vor ihre Füße. »Die Kündigung? Ist das nicht ein bisschen überstürzt? Du weißt doch gar nicht, was dich in Frankreich erwartet?« 

Julia trat mit zwei Espressotassen zu ihr und schüttelte den Kopf. »Ich kann unmöglich eine weitere Monatsmiete zahlen.« Sie zeigte in die leere Ecke des Wohnzimmers. Ihre Augen brannten. »Um einen Teil meiner Schulden zu tilgen musste ich mich schon von meinem geliebten Piano trennen. Die Wohnung ist zu teuer. Sicher ergibt sich bald etwas.« Ganz so zuversichtlich war sie nicht. Es gab jedoch keine andere Option. Zur Not musste sie zu Hause unterschlüpfen. Allein der Gedanke löste in Julia widersprüchliche Gefühle aus. Sie mochte ihre Eltern, aber ihre Mutter übertrieb es mit der Fürsorge und Julia liebte ihr eigenständiges Leben. Sie hoffte, eine bessere Lösung zu finden. 

»Na, dann lass uns loslegen.« Marit baute den ersten Karton geschickt zusammen. Sie folgte Julia ins Ankleidezimmer und stieß einen Pfiff aus. »Wow. Okay. Ich denke, dieses Schlachtfeld überlasse ich dir.« Ihr Blick wanderte über die geöffneten Schranktüren auf das Doppelbett. Auf der Tagesdecke stapelte sich die Kleidung turmhoch und drohte zu kippen. »Ganz ehrlich, Julia? Das ist krank! Wer braucht so viele Klamotten? Du könntest glatt eine Boutique eröffnen!« Julia spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. Marit trat näher und strich zärtlich über eine lachsfarbene Seidenbluse, die Julia erst kürzlich erstanden hatte. Nachdenklich rieb sie sich das Kinn. »Dir ist schon klar, dass hier ein kleines Vermögen liegt, oder? Wie wäre es, wenn du die absoluten Lieblingsteile heraussuchst und den Rest verkaufst? Ich kann mir nicht vorstellen, dass du in der neuen Wohnung wieder ein eigenes Ankleidezimmer hast. Willst du das alles bei deinen Eltern unterstellen? Die trifft glatt der Schlag.« 

Erschrocken sah Julia Marit an. Daran hatte sie gar nicht gedacht. Niemand wusste von ihrem Shoppingproblem. Nicht einmal Marit, die sie immer noch fragend ansah. »Okay. Überleg’s dir. Ich kümmere mich um das Geschirr in der Küche. Hierbei …«, sie machte eine ausladende Geste, »kann ich sowieso nicht helfen. Wenn ich dir hier rein pfusche, findest du in hundert Jahren nichts mehr wieder. Außerdem weiß ich nicht, was du nach Frankreich mitnehmen willst.« 

Was ihre Kleidung anging, hatte Julia ihr eigenes System. Marits Idee mit dem Verkauf einiger Kleidungsstücke fand sie gar nicht so schlecht, dabei war sie naheliegend. Ihr Herz hing nur an wenigen Stücken und die konnte sie ja behalten. Beflügelt von diesem Gedanken gab sie sich einen Ruck und sortierte die Kleider aus, bis sie die Anzahl der Kisten, die sie zu ihren Eltern bringen würde, auf ein Minimum begrenzt hatte. Zufrieden blickte sie auf das Ergebnis. Marit, die mit der Küche fertig war, stand im Türrahmen. 

»Was sagst du?« Stolz zeigte Julia auf die Umzugskisten. Belustigt registrierte sie Marits geweiteten Augen. 

»Das da kann alles weg? Puh. Ja. – Also, ich bin sprachlos. Meinst du, ich kann mir was davon aussuchen? Natürlich gegen Bezahlung.« 

»Klar. Das mit der Bezahlung lass mal.« 

Marit wollte etwas erwidern, aber Julia ließ sie nicht zu Wort kommen. »Weißt du was? Wir fotografieren die Teile für den Onlineverkauf schnell ab.« Sie zeigte auf den größten Stapel. »Dabei kannst du gleich entscheiden, was du haben möchtest. Den Rest bringe ich in den Secondhand-Laden.« 

 

Julia quälte ihren vollgestopften Clio durch die dreißiger Zone in Freiburg-Herdern und bewunderte die villenartigen Wohngebäude. Obwohl sie lange hier gelebt hat, faszinierten sie die schmucken Fassaden mit ihren Balkonen, Erkern und Türmen. Sie bog in die Hofeinfahrt ihrer Eltern ein und parkte vor der Garage. Als sie die Tür hinter sich zuschlug, hörte sie das Summen der Hummeln und Bienen im alten Aprikosenbaum, der im Vorgarten in Blüte stand. Julia lächelte. Sie liebte seine Früchte. Schon als Kind konnte sie ihnen mit ihrer orangegelben Farbe und derren Süße nicht widerstehen. 

»Da bist du ja!« Ihre Mutter riss die Tür auf und umarmte sie herzlich. Sofort überkam Julia das schlechte Gewissen, weil sie sich so selten blicken ließ. »Wir hatten schon zum Mittagessen mit dir gerechnet.« 

»Hat ein bisschen länger gedauert. Wenn mir Marit nicht geholfen hätte, wäre ich immer noch nicht fertig. Was gab es denn Feines?« Sie öffnete die Heckklappe und hievte die erste Kiste heraus. 

»Na, Kartoffelpfannkuchen mit Apfelmus. Grüß dich, Julia!« Ihr Vater kam durch die Garage und nahm ihr den Karton ab. »Du sollst doch nicht so schwer tragen. Lass dich mal anschauen. Blass bist du. Alles klar bei dir?« Er musterte sie skeptisch. 

»Ja, Papa. Die Packerei war anstrengend, weil ich heute damit fertig werden wollte. Das ist alles. Aber wie gesagt, ich hatte Hilfe. Habt ihr mir von meinem Leibgericht etwas übrig gelassen?« Sie schluckte beim Gedanken an die knusprigen Küchlein. Ihr Magen gab ein verdächtiges Knurren von sich. 

»Aber selbstverständlich. Komm rein und erzähl mir von diesem ominösen Erbe! Papa kümmert sich um deine Sachen. Er weiß am besten, wo er sie unterbringt.« Sie warf ihrem Mann einen auffordernden Blick zu. Dann zog sie Julia in Richtung Haustür. Im Flur stieg Julia der Duft von Fettgebackenem in die Nase. Sie setzte sich an den Küchentisch, auf dem für sie eingedeckt war. Ihre Mutter griff mit zwei Topflappen eine Platte, die im Backofen stand, und stellte sie vor Julia ab. Die dampfenden Küchlein zauberten ein Lächeln auf ihr Gesicht. 

»Seid ihr sicher, dass es niemanden in der weiteren Verwandtschaft gibt, der Kraft hieß und im Elsass wohnte?« Julia schaufelte sich drei Kartoffelpfannkuchen auf ihren Teller. 

»Nach deinem Anruf haben wir uns den Kopf zerbrochen, aber uns fiel keiner ein. Wir sind sicher, dass diese Amalia nicht unserer Linie entspringt. Deshalb, …«, sie machte eine kurze Pause, »besteht die Möglichkeit, dass es sich um eine deiner leiblichen Verwandten handelt und …« 

»Du glaubst, ich finde dort jemanden aus meiner leiblichen Familie, der als potenzieller Spender für eine Niere infrage käme, stimmt’s?« Julia verdrehte die Augen. »Du weißt genau, wie ich darüber denke.« Sie kaute genüsslich und nahm sich einen weiteren Pfannkuchen vom Stapel. »Ihr habt nie erwähnt, dass meine leiblichen Eltern aus Frankreich stammen.« 

»Das ist uns auch nicht bekannt. Die Adoption lief damals über eine Agentur hier in Freiburg. Aber, wenn es so wäre, finden wir vielleicht einen Spender und du würdest etwas über deine Wurzeln erfahren«, spann sie den Gedanken weiter. »Ist das nicht spannend?« 

»Mama, das war mir nie wichtig. Ihr seid meine Eltern und werdet es immer bleiben.« Julia ergriff die Hand ihrer Mutter und drückte sie fest. »Ich habe mich stets von euch geliebt gefühlt.« 

Ihre Mutter schluckte heftig. »Genau deshalb, mein Kind, hoffe ich, dass sich ein Spender findet. Der Gedanke …« Sie wandte den Kopf zur Seite und rang um Fassung. 

Julia stand auf und umarmte ihre Mutter. »Das wird schon, Mama, du wirst sehen. So schnell lasse ich mich nicht unterkriegen und momentan geht es mir doch gut.« Das stimmte nur zum Teil, aber sie konnte es nicht ertragen, wenn sich ihre Eltern um sie sorgten. 

Nach dem Essen ging sie in ihr altes Zimmer, das sie sich mit ihrer Schwester Bobby geteilt hatte. Ihr Vater hatte die Kisten in der Ecke gestapelt. Es sah fast unverändert aus. Die Betten waren frisch bezogen und mit einer Tagesdecke abgedeckt. Julia lächelte. Hier gab es immer einen Platz, wenn sie oder ihre Schwester spontan übernachten wollten. Von Erinnerungen überwältig nahm sie den Teddy vom Regal, ohne den sie als Kind nicht einschlafen konnte. Seine dunkelblaue Latzhose war notdürftig geflickt. Bobby hatte sie dem Stofftier nach einem Streit vom Körper gerissen. Sie war der Auffassung, dass Kleidung Tierquälerei gleich kam. Bobby. Julia seufzte. Sie sahen sich nur selten. 

 

 

 

Kapitel 2 

Julia saß auf ihrem Platz im Dialysezentrum und ließ ihre Lektüre in den Schoß sinken. Sie konnte sich nicht darauf konzentrieren, zu sehr freute sie sich auf das kleine Abenteuer, über die Ferien verreisen zu können. Sie hatte mit dem zuständigen Arzt ihren Dialyseplan für die Zeit ihres Aufenthaltes im Elsass besprochen. Mit der heutigen Sitzung hatte sie einen Puffer von drei Tagen. 

Danach fuhr sie in ihre Wohnung, um die Kleider zu packen, die sie unbedingt auf die Reise mitnehmen wollte. Mit Wucht warf sie sich auf den Koffer, der sich wie immer nicht schließen ließ. Ihr Kleidungsstil war stets geschmackvoll aufeinander abgestimmt, darum mussten ausgewählte Schuhe und Accessoires mit. Warum sollte sie ausgerechnet bei einer Reise nach Frankreich darauf verzichten? Weil du nur ins Elsass fährst und nicht nach Paris, meldete sich die kritische Stimme der Vernunft. »Papperlapapp!« Ein perfektes Äußeres verlieh ihr Selbstbewusstsein. Davon würde sie jede Menge brauchen. Sie griff in ihre Schmuckschatulle und zupfte den Lieblingsschmuck in Silber heraus. Man konnte ja nie wissen. Bei Kleidung bevorzugte sie kein spezielles Label, aber bei Taschen hegte sie eine Vorliebe für Chanel. Sie streckte sich, um aus dem obersten Fach des Kleiderschranks die kürzlich erstandene Handtasche herunterzuziehen. Stattdessen landete der Schlafsack, den sie für einen Campingurlaub mit Andreas gekauft hatte, wie ein Schleier auf ihrem Kopf. Sie hasste Camping. Allein der Gedanke, dass Tiere in ihr Zelt krabbeln könnten, löste eine Gänsehaut aus. Heilfroh, dass es nie dazu gekommen war, betrachtete sie das Ausrüstungsstück. Das mit dem Camping war eine Schnapsidee von Andreas. Es blieb sein Geheimnis, ob er es damit je ernst gemeint hatte. Was hatte sie eigentlich mit ihm verbunden, fragte sie sich. Die Musik, die ihr so am Herzen lag, sicher nicht. Das weißt du ganz genau, zischte eine Stimme in ihrem Kopf. Er war eine Sahneschnitte, wusste neben der Arbeit das Leben zu genießen. In seinen gehobenen Lebensstil hatte sie perfekt hineingepasst. Ausschließlich materielle Dinge, stellte Julia traurig fest. Nicht nur, räumte sie ein. Er hatte ihr auch Sicherheit gegeben, nicht nur in finanzieller Hinsicht. 

Sie erinnerte sich an eine Party, die aus dem Ruder gelaufen war. Ein Kollege, der dem Alkohol stark zugesprochen hatte, belästigte sie mit zotigen Bemerkungen. Sein Versuch, übergriffig zu werden, wurde von Andreas vereitelt und endete mit einer blutigen Nase. Sie dachte an die Szene mit Georg auf dem Flur. Erleichtert wischte sie diesen dunklen Gedanken zur Seite. Nun fuhr sie nach Frankreich und war dieses Ekel erst mal los. Noch immer hielt sie den Schlafsack in Händen. Vielleicht würde er ihr jetzt nützlich sein? Sie wusste ja nicht, was sie erwartete. Sie band ihn, zusammen mit ihren Erinnerungen an Andreas, zu einer Rolle und verstaute ihn mit ihrem Kopfkissen im Auto. Ein letztes Mal fuhr sie mit dem Lift nach oben, um den Koffer zu holen. Mit einem wehmütigen Blick auf ihr vergangenes Leben schloss sie resolut hinter sich die Wohnungstür. 

 

Julia stellte das Intervall am Scheibenwischer an, der lautstark über die Frontscheibe schrubbte. In ihrem Magen kribbelte es angenehm. Zu blöd, dass der Notar ihr keine näheren Auskünfte erteilen durfte. Es war schwierig, aufgrund der Adoption ihre Adresse ausfindig zu machen, und nicht absehbar, wann man zu einem Ergebnis gelangen würde. Deshalb hatte vor längerer Zeit eine Testamentseröffnung stattgefunden. Der Regen nahm zu, um sie herum wurde es düster und bald kämpfte der Wischer auf Stufe zwei gegen die Wassermassen, die auf die Scheibe prasselten. Sie brauchte das Geld aus dem Verkauf der Immobilie dringend, nachdem Andreas sie abserviert hatte. Aber sie wollte auch wissen, was oder wer sich hinter der Erbschaft verbarg. Der Wagen schlingerte, als Julia durch eine Wasserlache fuhr, die sich meterlang auf der Straße gebildet hatte. Aquaplaning, schoss es ihr durch den Kopf. Fontänenartig klatschte das Spritzwasser über ihr Auto. Sie bremste ab. Es war besser, wenn sie sich auf das Fahren konzentrierte, wollte sie nicht im Graben landen. Julia nahm vor Artzenheim im Kreisverkehr die dritte Ausfahrt und fuhr über die kleine Brücke mit dem roten Geländer. Es goss wie aus Kannen. Durch die Seitenscheibe des Clios hielt sie nach ihrem Objekt Ausschau. 

»Sie haben Ihr Ziel erreicht«, quakte die Navigationsstimme. Das vermeintliche Erbe duckte sich in einer Mulde an einen kleinen Fluss, den Rhone-Rhein-Kanal, wie sie der Karte auf dem Handy entnehmen konnte. Scheinbar gab es keine direkte Zufahrt. Ein paar Meter weiter teilte sich die Straße Richtung Jebsheim. Ein verwittertes Schild wies auf einen Parkplatz hin. Auf dem unbefestigten Platz hatten sich zahlreiche Pfützen gebildet, in denen die Regentropfen Blasen schlugen. Ein Zeichen, dass es nicht so bald aufhören würde, sagte ihre Mutter immer. Julia tastete hinter den Beifahrersitz nach ihrem Regenschirm. Der Griff ging ins Leere. Nicht ihr Schirm, fiel ihr ein, sondern Andreas’. Er hatte ihn mitgenommen. Sie kramte den Hausschlüssel aus ihrer Handtasche. Solche Schlüssel kannte Julia nur aus alten Filmen oder von Burgführungen. Er war gut zehn Zentimeter lang, aus Eisen und das Ende, das man ins Schloss steckte, war gewellt mit kleinen Zacken. Bart nannte man das, wenn sie sich recht an das Wort erinnerte. Versonnen blickte sie auf den Anhänger, den Violinschlüssel, der ihr auf Anhieb so gut gefallen hatte. 

Entschlossen öffnete sie die Wagentür. Frische Luft schlug ihr entgegen, die nach Frühling roch. Sie zog ihre Kapuze über den Kopf und stieg aus. Mit ihren Wildlederstiefeln tapste sie mitten in eine Pfütze, dass es nur so spritzte. »Mist!« Entsetzt sah sie auf die rostbraunen Schlammflecken auf ihrer Designerjeans. Böen zerrten an ihrer Kapuze. Vom Parkplatz aus gelangte sie auf den Weg, der am Kanal entlangführte. Sie folgte hastig dem Weg unter der Landstraße und durchquerte ein unscheinbares Viadukt aus grauem Beton. Das Schleusenhaus war einstöckig mit ausgebautem Dachgeschoss. Zumindest hingen Gardinen in den oberen Fenstern. Das Dach glich einer Mütze, die sich das Haus tief in die Stirn gezogen hatte. Neben dem Eingang ergoss sich das Wasser aus der defekten Dachrinne, die um ein Vordach aus Ziegeln angebracht war. Die unteren Fensterläden waren geschlossen und gaben dem Haus ein verschlafenes Gesicht. Der Eindruck wurde durch die hereinbrechende Dämmerung verstärkt. Zum ersten Mal zweifelte Julia an ihrer Entscheidung, mit der Anreise nicht bis zum nächsten Morgen gewartet zu haben. Sie hatte sich das Haus nicht so abgelegen vorgestellt. Das Wasser im stillgelegten Schleusenbecken, das sich die Staustufe hinabstürzte, rauschte laut. Ein verwittertes Boot zerrte in den Wellen an seinem Strick. Julia bereute sofort, vorab kein Zimmer im Ort gebucht zu haben. 

»Hoffentlich sieht es drinnen besser aus«, murmelte sie missmutig. Obwohl sie schon vom Regen durchnässt war, wich sie der Dusche am Eingang aus und steckte den Schlüssel in das verrostete Schloss. Er ließ sich erstaunlich leicht drehen, aber die Tür klemmte. Julia rüttelte an der Türklinke und drückte mit ihrem ganzen Gewicht dagegen. Sie stolperte in den dunklen Hausflur. Eine Wand aus muffiger, abgestandener Luft schlug ihr entgegen. Auf der Suche nach einem Lichtschalter tasteten ihre Finger das raue Mauerwerk ab. Sie griff in Spinnweben, die an der nassen Haut kleben blieben. »Igitt!« Sie zog die Hand zurück, die sie an der Jeans abwischte. Das würde den Zustand der Hose nicht verbessern, dachte sie genervt. »Herrgott, was hat mich nur geritten, hierher zu kommen?« Sie zog ihr Handy aus der Tasche und leuchtete, auf der Suche nach Spinnen, die sich abseilten oder über den Flurboden huschten, die Wände und den Boden ab. Erleichtert atmete sie aus, als nichts dergleichen geschah. Phobisch kontrollierte sie stets einen Raum auf diese Art, bevor sie ihn betrat, selbst wenn es sich nicht um ein altes Haus handelte. Sie hielt die Achtbeiner gerne im Auge und auf Abstand, aber sie rannte mittlerweile nicht mehr schreiend davon. Erwartungsvoll betätigte sie den Lichtschalter. Nichts. »Typisch. Wäre ja zu schön gewesen.« Sie schüttelte sich und summte leise eine Melodie, die ihr in den Sinn kam und der sie keine Beachtung schenkte. Es war unheimlich, nur mit der Handylampe durch ein fremdes Haus zu schleichen. Neugierig wagte sie sich im Lichtkegel der Lampe vorsichtig weiter. Sie sah auf den Akkustand ihres Smartphones. Zehn Prozent. »Na toll!« Die geschlossenen Läden hüllten das Wohnzimmer in vollkommene Dunkelheit. Sie öffnete das Fenster und stieß den Fensterladen auf, den der Wind mit Karacho an die Hauswand schlug. Erschrocken zuckte sie zurück und verstummte. Das Prasseln und Rauschen des Regens erfüllten die Stube. Ob der Fluss schon mal über die Ufer getreten war? Schnell schloss sie das Fenster. Sie würde später den Laden befestigen. Oder auch nicht, verwarf Julia den Gedanken, durch die Dunkelheit zu schleichen. Es konnte durchaus bis morgen warten. Im spärlich einfallenden Licht zeigte sich eine gemütlich eingerichtete Wohnstube: ein abgewetztes Sofa, ein Sessel aus orangerotem Stoff und ein Schaukelstuhl, über den ein Plaid gebreitet war. An einem alten Klavier blieb ihr Blick kleben. Ein Gefühl von Frieden überkam sie. In der hinteren Ecke stand ein schwarzer Kaminofen, in dem sogar Holz für ein Feuer aufgeschichtet war. Als würde die Eigentümerin jeden Augenblick zurückkommen. Der Gedanke an die Verstorbene ließ Julia erschauern. Es war gespenstig still. Nur der Regen prasselte an die Scheibe. Sie zog die nasse Jacke aus und hängte sie mit ihrer Handtasche über die Lehne des Sessels. Erschöpft setzte sie sich einen Moment auf das Sofa. Jede Menge Kissen zierten das Sitzmöbel. Sie klopfte sich eines zurecht und nieste kräftig. Wie war sie nur auf die Idee gekommen, hier übernachten zu können? Sie hatte sich das Haus in einem gepflegteren Zustand vorgestellt. In Filmen zogen sie die weißen Laken von den Möbeln. Jetzt musste sie über ihre romantische Vorstellung schmunzeln. »Das wird ein hartes Stück Arbeit«, murmelte sie und erschrak. Dachte sie ernsthaft daran, das Haus zu behalten? »Nein, nein, nein! Schlag dir das aus dem Kopf, Julia Lüttke!« Es reichte völlig aus, hier die Ferien zu verbringen! Wenn überhaupt! Es war kurz vor Ostern, sie könnte es sich über die freien Tage in ihrer sauberen Appartementwohnung gemütlich machen, sich auf die behagliche Wohnlandschaft kuscheln und nicht ein ganzes Haus einer kompletten Grundreinigung unterziehen. Wo sie putzen so hasste! – Eine Wohnung, die du dir nicht mehr leisten kannst und die du gekündigt hast, meldete sich eine kritische Stimme in ihrem Kopf. Julia sah sich nochmals um. Das alte Haus wirkte sowohl abstoßend als auch vertraut. Sie horchte in sich hinein. Tief in ihrem Inneren brachte es eine unbekannte Saite zum Klingen. Fast meinte sie, wieder die Melodie zu hören, die sie eben gesummt hatte. So ein Quatsch. Wenn die Alte doch in diesen Wänden spukte und sie heimlich beobachtete? Die Härchen auf den Unterarmen stellten sich auf. Der Akku verabschiedete sich. Sie saß allein im Dunkeln. (Ende der Leseprobe)