Inspector Stummel und die Entführer

 

Stummels Kopf dröhnte vor Kopfschmerzen. In der Nacht war er mehrmals durch das Geknatter der Mofas aus dem Schlaf gerissen worden. Er sehnte die kältere Jahreszeit zurück, die die nächtlichen Ausflüge der Halbwüchsigen unterbinden würde.         

Da er nichts von der Chemiekeule hielt, massierte er sich die Schläfen mit Minzöl ein, was seinen Dackel Waldi veranlasste, das Weite zu suchen. Er konnte den penetranten Geruch nicht ausstehen.

            „Mir platzt der Schädel, dummer Hund“, sagte Stummel kopfschüttelnd, was eine erneute Welle an hämmernden Schlägen hervorrief, „und, wenn das nicht besser wird, ist der Spaziergang am Bach gestrichen.“                       

Waldi schaute mit vorwurfsvollem Blick zu seinem Herrn, bevor er beleidigt seine Schnauze unter den Hinterbeinen vergrub.                                                               

Der Teekessel pfiff und Stummel goss sich eine Tasse Entspannungstee auf. Er setzte sich an den Küchentisch, die Stirn in die Hände gestützt. Im Radio plärrte „Hallo, guten Morgen Deutschland“ und er griff über den Tisch, um es auszuschalten. Dabei stieß er die Teetasse um, dessen heißer Inhalt sich über die glatte Tischoberfläche auf seine Beine ergoss. Fluchend sprang er auf, sodass der Stuhl kippte und suchte nach seiner Brille, die er für die Schläfenmassage abgesetzt hatte.                          

„Heute war definitiv nicht sein Tag“, dachte er und wischte sich mit einem Küchenhandtuch über die Hose. Niedergeschlagen legte er sich aufs Sofa und schloss die Augen.

 

Eine Stunde später, stand Waldi an der Couch an und leckte fordernd an seiner Hand.

            „Musst raus, gell?“                                                                                         

Vorsichtig richtete er sich auf und unterzog seinen Kopf einer Prüfung. Die Schmerzen waren nicht weg, aber besser. Für den morgendlichen Einkauf im kleinen Laden und eine kurze Gassirunde konnte er sich aufraffen. Er schlüpfte in seine Popelin Jacke und griff nach der Leine, was Waldi zu aufgeregtem Gekläff verleitete.

            „Willst du wohl still sein! Oder sollen die Kopfschmerzen gleich wiederkommen?“

Waldi reduzierte sein Bellen auf ein Winseln und wedelte heftig mit seiner Rute. Stummel entzündete ein neues Zigarillo und nahm einen kräftigen Zug. Der Dackel zerrte an der Leine, es schien wirklich dringend zu sein. Fast wäre Stummel in den frischen Hundehaufen getreten, der vor dem Hoftor prangte. Er wusste genau, wessen Hinterlassenschaft das war. Seit neuerdings der Sohn des Nachbarn, mit dem Vierbeiner raus musste, hatte sein Golden Retriever des Öfteren sein Geschäft vor seinem Grundstück abgesetzt. Allen Ermahnungen zum Trotz, hatte sich daran nichts geändert, sodass Stummel in der letzten Zeit zu drastischeren Erziehungsmaßnahmen gegriffen hatte. Er tütete das Corpus Delilcti ein und legte das gut verknotete Päckchen auf dem Mofa Sitz des Jungen ab, das vor dessen Hofeinfahrt abgestellt war.

 

Wie gewohnt band Inspector Stummel seinen Hund vor dem kleinen Laden an und erledigte seine Einkäufe.

            „Sie sind spät dran heute“, sagte die Frau am Brotstand, „die hellen Brötchen sind leider aus. Ich kann die Mehrkornbrötchen empfehlen.“                               

Er mochte keine Körner, weil die immer in seiner Teilprothese hängen blieben und er sich den ganzen Tag wie ein Wiederkäuer vorkam.

            „Nein danke, dann nehme ich heute ein kleines Weißbrot.“                            

An der Kasse traf er Frau Leinenstoll.

            „Einen schönen guten Tag!“, grüßte sie, stutzte und setzte eine besorgniserregende Mine auf. „Oh je, Kopfschmerzen?“

            „Ist das so offensichtlich?“, fragte Stummel, peinlich berührt.

            „Mein Sohn hat früher an Migräne gelitten. Die Kerbe zwischen den Augenbrauen und die zusammengekniffenen Augen sind typisch. Haben Sie es schon mal mit Minzöl versucht?“

            „Danke ja. Es geht auch schon besser.“

Er war heute nicht in Plauderlaune, zahlte zügig und verließ den Laden. Ein kleines Stück mit Waldi an der frischen Luft und dann nach rasch Hause, dachte er.

Am Anbindering vor dem Geschäft hing die Leine, von seinem Hund keine Spur.

Stummel schaute in alle Richtungen und begann nach ihm zu rufen. Erst leise fragend, dann verzweifelt brüllend, sodass die Kassiererin und Frau Leinenstoll erschrocken vor die Tür gerannt kamen. Fassungslos hielt er ihnen die Leine entgegen.

            „Das ist eine Entführung“, hauchte Inspector Stummel, dem angesichts dieser Erkenntnis die Stimme versagte.

            „Aber um Gottes willen, wer sollte denn so etwas tun?“ Frau Leinenstoll schüttelte ungläubig den Kopf.

            „Und vor allem warum?“, setzte Frau Grießenkötter hinzu.                                     

Das wusste Stummel auch nicht. Frau Leinenstoll versprach auf dem Nachhauseweg Ausschau nach dem Dackel zu halten und er selbst suchte in der anderen Richtung. Dabei hetzte er so voran, dass er nach kurzer Zeit schweißgebadet und keuchend einen Gang runterschalten musste. Zunächst lief er die Strecke am Bach entlang, danach die angrenzenden Wohngebiete ab. Nachdem die Suche auch im kleinen Park ergebnislos blieb, hoffte er, ihn vor seiner Tür wiederzufinden. Schließlich war Waldi ein Jagdhund und sollte den Weg alleine finden, wenn der Racker nur ausgebüxt sein sollte. Dieser Wunschgedanke erfüllte sich leider nicht.

Zu Hause griff er zum Telefon und rief direkt im Tierheim an, aber auch dort wurde kein Dackel abgegeben. Niedergeschlagen saß er am Küchentisch. Es klingelte an der Haustür. Hoffnungsvoll und mit klopfendem Herzen riss er sie auf und sah Frau Leinenstoll.

            „Hier.“

Sie überreichte einen Stapel Blätter mit einer Suchanzeige und einem Foto von Waldi. „Sie sollten es im Städtchen aufhängen. Gemeinsam findet sich Ihr Hund vielleicht schneller?“                                                                                          

Inspektor Stummel war platt. So viel Initiative hätte er der alten Frau gar nicht zugetraut.

            „Das ist eine geniale Idee. Vielen Dank. Aber woher hatten Sie denn die Aufnahme?“

            „Ach das war Zufall. Mein Sohn hat auf dem letzten Feuerwehrfest ein paar Fotos geschossen und da waren auch Sie mit ihrem Hund drauf.“                                

Der Gedanke, auf wie vielen Erinnerungsfotos fremder Menschen er zu sehen war, beunruhigte ihn ein wenig, aber in diesem Fall hatte es durchaus sein Gutes.

            „Wie unhöflich von mir“, sagte er jetzt, „wollen Sie nicht hereinkommen?“

            „Nein. Ein andermal, danke. Ich wollte das nur schnell abgeben.“            

Inspector Stummel griff sich den Tesafilm-Abroller aus der Küchenschublade und machte sich gleich auf den Weg, um die Flyer aufzuhängen. Nach eineinhalb Stunden waren alle strategisch wichtigen Plätze, sowie die Stangen der Straßenlaternen in den verschiedenen Wohnvierteln mit dem Suchplakat beklebt. Auch an der Eingangstür zum Dorfladen durfte er eins aufhängen, ebenso auf der Post und der Sparkasse. Das beruhigende Gefühl, etwas aktiv getan zu haben, hielt nicht lange an. Wieder zu Hause tigerte Stummel wie ein wildes Tier in seiner Wohnung auf und ab. Er versuchte es erneut im Tierheim, wo sie seine Telefonnummer notierten und versprachen sich umgehend zu melden, sollte das Fundtier eintreffen.

 

Stummel ging an den Briefkasten. Ein einzelner Zettel fiel heraus. Er faltete das Blatt auseinander und griff haltsuchend an den Gartenzaun. Seine Befürchtungen hatten sich bestätigt. Er hielt eine klassische, mit ausgeschnittenen Buchstaben zusammengesetzte Lösegeldforderung in Händen. Der Erpresser forderte 5000 Euro, mit der ausdrücklichen Aufforderung, keine Polizei einzuschalten. Übergabeort und Zeitpunkt, würden morgen bekannt gegeben.

Eine weitere Nacht ohne seinen Kumpel war fast nicht zu ertragen. Stummel plagten Albträume, in denen Waldi von den Entführern getreten wurde und erwachte schweißgebadet. Er hatte sich in seiner Bettdecke verheddert, da er scheinbar wild um sich geschlagen hatte.                                         

Den Gang zum Einkaufsladen schenkte er sich, stattdessen beobachtete er seinen Briefkasten, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, dass der Entführer das Risiko einging, gesehen zu werden. Um ganz sicherzugehen, dass nicht während der Nacht eine Nachricht eingeworfen wurde, ging er als erstes nachschauen. Nichts. Auch drei Stunden später keine neue Information, kein Anruf. Das andauernde Starren Richtung Gartenpforte war ermüdend und die schlaflose Nacht forderte ihren Tribut. Stummel schreckte von seinem eigenen Schnarchen auf. Er war eingenickt. Erschrocken blickte er zur Uhr. Etwa eine dreiviertel Stunde war vergangen. Erneut checkte er den Briefkasten. Nichts. Ob etwas schief gegangen war und sein kleiner Freund nicht mehr lebte? Die Gedanken ließen sich nicht abschalten, sie wirbelten, einer schlimmer als der andere durch seinen Kopf und verursachten schon wieder Kopfschmerzen.

            „Warum verdammt, meldete sich der Entführer nicht?“

Das Telefon klingelte und ließ Stummel zusammenfahren. Energisch packte er den Hörer und drückte ihn ans Ohr.

            „Kommunales Forstamt, Meyer. Ich habe ihre Suchanzeigen gesehen und etwas gefunden, was mit dem Verschwinden Ihres Dackels zu tun haben könnte. Ist es Ihnen möglich, gleich mal vorbeizukommen?“

Inspector Stummel machte sich gleich auf den Weg. Er hatte kein Auto, deshalb nahm er das Fahrrad, um schneller vor Ort zu sein. Herr Meyer erwartete ihn bereits und bat ihn neben ihm am Schreibtisch Platz zu nehmen. Er hatte eigens dafür einen Stuhl herangezogen. Nun schob er den Laptop vor seinen Gast.

            „Sehen Sie selbst, ob es sich hier um ihren Hund handelt. Wir haben seit einiger Zeit Wildkameras installiert, weil auch bei uns im Landkreis der vermeintliche Wolf immer mehr eine Rolle spielt, obwohl es sich meist um wildernde Hunde handelt.“

 

Er startete die Datei mit den Aufnahmen und man sah drei Gestalten, die heftig miteinander diskutierten und einen kleinen Hund an der Leine hielten. Seinen Dackel. Waldi. Die Entführer sah man nur von hinten und sie trugen Shirts, dessen Kapuze sie über den Kopf gezogen hatten. Die Aufnahme verfügte nicht über Ton, sodass man leider nicht hören konnte, um was es ging. Stummel starrte wie gebannt auf seinen Hund, während seine Finger an sein Bein trommelten. Waldi zerrte wie verrückt rückwärts an der Leine, sodass sich sein Halter kurz zur Seite drehte. Es handelte sich um einen Teenager. Der Junge zog einmal kräftig zu sich hin, sodass das Halsband erst über ein Ohr glitt und durch eine geschickte Kopfdrehung Waldis ganz über den Kopf rutschte. Der Dackel nutzte die plötzliche Freiheit und sauste davon. Sofort setzten sie dem Ausreißer nach. Bevor sich die Gruppe aus dem Blickfeld der Kamera bewegte, sah Stummel gerade noch, wie sein Dackel im Erdboden verschwand. Er hatte sich in einen Bau gerettet.

 

            „Ihrem Blick nach zu urteilen, handelt es sich hier um ihren Dackel?“, fragte jetzt Herr Meyer. „Eine Ahnung wer die Jugendlichen sind?“

Inspector Stummel brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. Er hatte einen Verdacht, aber das Schwarz-weiß-Video und die dunkle Kleidung machte die Sache nicht einfacher, zumal sie meist nur von hinten zu sehen waren.

            „Kann ich das Video noch einmal anschauen. Ich hatte jetzt in erster Linie auf meinen Hund geachtet.“

            „Selbstverständlich.“

Herr Meyer startete ein zweites Mal.

            „Stopp, können Sie hier anhalten?“ Der Forstbeamte spulte ein Stück zurück und stoppte an der gewünschten Stelle.

            „Da, die Leine! Das ist die Leine des Entführers. Können Sie das irgendwie vergrößern?"                                                                                 Herr Meyer konnte. Er speicherte ein Foto aus dem Video, das er dann heranzoomen konnte. Inspector Stummel hatte richtig vermutet. Am Anbindering in der Mitte baumelte ein kleiner Starwars-Anhänger, den er an der Leine des Golden Retriever seines Nachbarjungen gesehen hatte.

            „Wo befindet sich diese Kamera?“, fragte er nun.

            „Unten am Bach.“                                                                                        

Stummel nickte. „Ich bin mir sicher, dass mein Hund sich noch immer im Bau befindet, sonst wäre er längst nach Hause gelaufen. Wenn er feststeckt, könnte er sich in Lebensgefahr befinden.“

Stummel ahnte, warum keine Nachricht mit den Übergabedetails eingegangen war. Sie hatten ihr Opfer verloren.

            „Warten Sie, ich komme mit“, sagte Herr Meyer und griff nach seinem Autoschlüssel.

 

Gemeinsam fuhren die Männer zum Tatort. Der Forstwart hatte den Bau schnell gefunden. Inspector Stummel kniete nieder, legte die Hände trichterförmig vor seinen Mund und rief in die Öffnung hinein nach seinem Hund. Angespannt lauschten sie. Er versuchte es erneut. Ein leises Winseln war zu vernehmen.

            „Ohne Hacke und Schaufel kommen wir nicht an ihn heran. Bleiben Sie hier, ich fahre heim und hole das Werkzeug. Ich beeile mich“, versprach der Forstwirt.

Herr Meyer wartete keine Antwort ab und rannte zu seinem Wagen. Zehn Minuten später kam er zurück und die Männer begannen den Bau freizulegen. Waldi steckte tiefer fest als gedacht. Nur das stetig lauter werdende Fiepen des Tieres bestätigte ihnen, dass sie sich auf dem richtigen Weg befanden. Erst nach zwei Stunden schweißtreibender Arbeit waren sie so nah, dass sie die restliche Erde vorsichtig mit Händen abtragen und den verängstigten Dackel bergen konnten. Stummel drückte das verdreckte Tier erleichtert an sich und Waldi leckte ihm liebevoll über das Gesicht.

            „Sie sollten die Burschen anzeigen oder wenigstens den einen, den Sie erkannt haben. Ich denke nicht, dass er die Strafe für seine beiden Freunde mittragen wird, sodass auch diese gefasst werden. Immerhin war es Zufall, dass wir ihren Hund rechtzeitig gefunden haben. Spätestens nach dem Unfall mit dem Bau, hätten sie sich stellen und Sie informieren müssen. Die unterlassene Hilfeleistung im Zusammenhang mit Tierquälerei und Inkaufnahme einer Todesfolge, bringt ihnen mindestens Sozialstunden ein. Ich wüsste da die richtige Aufgabe für die Drei.“         

Bevor Inspector Stummel seinen Helfer nach Hause zu einer verdienten Stärkung einlud, brachten sie die Angelegenheit bei der Polizei zu Anzeige.

 

 

Der Nachbarsjunge brach bei der Vernehmung bald ein und offenbarte die Namen seiner Kumpels. Die Tatsache der räuberischen Erpressung hatte Stummel nicht zur Anzeige gebracht, sonst wäre die Strafe sicher nicht so glimpflich ausgegangen. Er führte jedoch ein ernstes Gespräch mit dem Jungen, in dem er seinen Standpunkt deutlich darlegte.                                                                                                                                   Herr Meyers Vorschlag, die Sozialstunden in der Forstverwaltung abzuleisten stieß bei der Behörde auf Zustimmung. Die Jungs lernten eine Menge über den Forst, insbesondere über die Schönheit und Gefährlichkeit von Fuchs- und Dachsbauten.