Stummel und der Trebegänger

 

Vor einem Jahr hatte sich zum Unmut einiger Bürger eine Glaubensgemeinschaft am Rande des Städtchens niedergelassen. Die äußerliche Aufmachung und die auffallend strengen Regeln unter den Mitgliedern empfanden viele als befremdlich. Auch Inspector Stummel beobachtete die Gruppierung mit wachsendem Interesse. Er ging regelmäßig am Sonntag zum Gottesdienst und war ehrenamtlich im Kirchenrat tätig.

 

Die evangelische Kirche im Städtchen war stets geöffnet. Er selbst hatte sich dafür eingesetzt, weil er der Meinung war, dass ein Gotteshaus jederzeit Trostsuchenden zugänglich zu sein hatte.

In der letzten Zeit war ihm ein junger Mann aufgefallen, der sich häufig in der Kirche aufhielt. Da er mit einem Rucksack ausgestattet war, wähnte er ihn auf der Walz.

Eines Morgens sah er ihn mit einer Blechbüchse vor dem kleinen Laden sitzen. Nachdem Waldi erst kürzlich hier entführt wurde, war ihm ein bisschen mulmig, seinen Dackel an der anderen Seite vor der Tür festzubinden. Während seines Einkaufs spähte er immer wieder durch das Schaufenster nach draußen. Er stellte fest, dass sowohl Hund als auch Landstreicher in ihrer jeweiligen Ecke verharrten, und entschloss sich, dem Mann ein Sandwich aus der Kühltheke zu spendieren.

            „Hunger?“

            „Das ist nett, danke.“

Der junge Mann nahm die Stulle entgegen und als Stummel seinen Dackel losband und dieser an seinem Gegenüber schnüffelte, streichelte er ihm liebevoll über den Kopf.

Er zwickte ein Stück Schinken vom Brot und hielt es Waldi hin, der sich nicht lange bitten ließ. Stummel nutzte den Augenblick, um den Mann eingehender zu betrachten. Man sah, dass er schon länger unterwegs war, aber die Kleidung war weder verschlissen, noch verströmte sie einen strengen Geruch, wie man es für gewöhnlich erwartet hätte.

            „Leben Sie schon lange auf der Straße?“, wagte sich Stummel vor.                  

            „Etwa ein halbes Jahr.“

Er schüttelte den Kopf, als wundere er sich selbst über die bereits vergangene Zeit. Erneut biss er in das Sandwich und kaute genüsslich.

            „Ich habe Sie schon ein paar Mal in unserer Kirche gesehen. Sie können sich gerne jederzeit darin aufwärmen. Körperlich und geistig.“

Er nickte dem Mann zu und machte sich auf den Heimweg.

            „Ach Waldi“, wandte er sich seinem Hund zu, „da sind wir zwei doch froh, dass wir ein Zuhause haben. Wie schnell kann sich im Leben das Schicksal wenden.“

 

Beim Frühstück nahm er die Tageszeitung zur Hand und hielt im Kauen inne. Die Schlagzeile sprang ihm regelrecht ins Gesicht:

            „Neue religiöse Bewegung“ plant Gemeindesaal auf dem kürzlich erworbenen Areal am Stadtrand: Mehr auf Seite drei.

Stummel stellte den Kaffeebecher ab und blätterte raschelnd um. Es sah ganz danach aus, dass sich die Gruppe fest etablierte, was sicher nicht bei allen auf Wohlgefallen stoßen würde.

Die Nachmittagsrunde legte Stummel so an, dass sie an besagter Baustelle vorbeikamen. Er zog an seinem Zigarillo und ließ den Blick schweifen. Das Gelände mit den kleinen Häusern wirkte fast anheimelnd. Es gab keine Stromversorgung, weshalb aus den meisten Schornsteinen Rauch aufstieg, der angenehm nach Holz roch. Hier und da sah man die Bewohner in ihrer mittelalterlichen Kleidung. Die Frauen trugen bodenlange Röcke und Kleider, über die sie Schürzen gebunden hatten und die Männer Hosen und Hemden aus derbem Stoff. 

Eine Frau, die am Brunnen Wasser schöpfte, wurde aufmerksam, stellte den Eimer ab und kam auf ihn zu. Auf ein Gespräch war er nicht vorbereitet und so machte er kehrt und bog in einen Feldweg ab.

Fast zu Hause trafen sie auf Frau Gerber, die mit ihrem Rollator vom Laden kam, wie er an der Einkaufstüte am Lenker sehen konnte.

            „Ach, gut, dass ich Sie treffe!“, rief sie schon von Weitem. „Hatten Sie auch so einen Zettel im Briefkasten?“

Sie kramte in der Einkaufstasche und fuchtelte mit einem Blatt Papier vor seiner Nase herum.

            „Keine Ahnung. Was ist das?“

Neugierig warf er einen Blick darauf.

            „Einladung zum festlichen Singen: Dienstag und Freitag ab 15 Uhr, auf dem Gelände unserer Glaubensgemeinschaft. Alle sind herzlich willkommen!“

            „Ist denn das die Möglichkeit?“, ereiferte sich Frau Gerber.

            „Na ja.“ Stummel seufzte und gab das Papier zurück. „Das kann man schlecht verbieten und es ist ja niemand gezwungen hinzugehen.“

            „So fängt’s an, so fängt‘s an!“, sagte Frau Gerber. „Und ehe man sich versieht, hat man eine Gehirnwäsche und ist denen verfallen!“

            „Um Gottes Willen!“ Er musste sich ein Grinsen verkneifen. „So einfach ist das nun wieder nicht. Bisher erscheint mir alles völlig harmlos.“ Er lächelte. „Wir stehen doch fest im Leben und sind für so etwas gar nicht empfänglich, meinen Sie nicht?“

            „Vielleicht haben Sie Recht, aber denen traue ich einfach alles zu!“

Stummel schüttelte beim Weitergehen den Kopf. Die Sache bot jede Menge Konfliktpotenzial im Städtchen.

 

Stummel saß am Küchentisch und legte zufrieden das letzte Gesangbuch zu den anderen. Er hatte sie für kleinere Ausbesserungsarbeiten mit nach Hause genommen. Er trank seine Tasse aus, entzündete sich einen neuen Zigarillo und machte sich mit dem Karton auf den Weg zur Kirche.

Das Gotteshaus war leer. Er räumte die Bücher in das kleine Regal rechts vom Eingang, tauschte am Altar die abgebrannten Stumpen gegen neue Kerzen aus und füllte die Vase mit Osterglocken an der Kanzel mit frischem Wasser. Er wollte sich gerade wieder auf den Heimweg machen, als sich die Holzpforte knarrend öffnete. Er schaute auf und lächelte, als der Trebegänger eintrat.

Etwas verlegen entgegnete dieser das Lächeln seines Gegenübers und warf einen sehnsüchtigen Blick nach oben auf die Empore.

            „Meinen Sie, ich dürfte ein wenig die Orgel spielen?“, fragte er.

            „Sie können spielen? Gerne. Macht es ihnen was aus, wenn ich zuhöre?“

            „Nein, gar nicht.“

Er legte seinen Rucksack in eine Kirchenbank und erklomm flott die Stufen. Bald darauf war das Kirchenschiff erfüllt von österlichen Klängen. Stummel nahm Platz, schloss die Augen und genoss den Augenblick. Der Junge hatte Talent, gab er neidlos zu, als er Teile der Matthäuspassion erkannte.

Als das Spielen endete, hätte er am liebsten laut applaudiert, aber irgendwie hielt er es für unangebracht oder er ahnte, dass es den Mann in Verlegenheit bringen würde. Er wartete, bis er herunterkam.

            „Mein Kompliment, Sie beherrschen das Instrument ausgezeichnet.“

Der Fremde nickte verlegen und Stummel fragte sich, was für ein Schicksal den Mann widerfahren sein mochte. Spontan kam ihm eine Idee.

            „Was halten Sie davon, wenn Sie Ostern zu mir kommen? Ich wohne allein und meinen Hund kennen Sie ja schon. Ich würde mich über Gesellschaft freuen.“                                                                                                                       

Kaum, dass die Worte über seine Lippen gekommen waren, mahnte ihn sein Unterbewusstsein, dass er gerade einen Wildfremden zu sich eingeladen hatte. Aber sein Bauch widersprach, dass er sich nicht in ihm täuschte und es eine Christentat sei, die er sicher nicht bereuen würde. Der junge Mann zögerte.

            „Wie heißen Sie?“, fragte Stummel nach.

            „Ben, Ben Jarosch.“

            „Anton Wagner. Jarosch, das klingt ostdeutsch“, bemerkte er.

            „Meine Mutter stammte aus Oberschlesien.“

Stummel nickte.

            „Also? Ostersonntag dreizehn Uhr?“

            „Gerne. Vielen Dank für die Einladung. Das ist nicht selbstverständlich.“

            „Schon okay“, sagte Stummel und gab ihm eine Karte mit seiner Anschrift.

 

Am nächsten Nachmittag klingelte es an der Haustür. Stummel fluchte. Er saß auf dem stillen Örtchen und fragte sich, wer an der Tür sein mochte. Ausgerechnet jetzt! Es läutete ein zweites Mal und er beeilte sich. Beim vierten Ding-Dong öffnete er außer Atem.

Vor der Tür stand Frau Leinenstoll.

            „Fürchtete schon, sie sind nicht zu Hause“, sagte sie und hielt ihm den Osterzopf entgegen, den man in Verbindung mit einer Spende in der Pfarrgemeinde vorbestellen konnte.

            „Himmel, daran hatte ich gar nicht mehr gedacht. Wollen Sie nicht hereinkommen und sich bei einem Tee aufwärmen? Sie wollte, legte ihren Mantel ab und nahm in der Küche Platz. Stummel, der den Tee schon fertig hatte, schenkte ihr ein.

            „Was sagen sie zu denen?“ Sie tippte auf das Flugblatt, das auf dem Küchentisch lag.

Stummel mochte eigentlich gar nichts sagen. Frau Leinenstoll schien genauso skeptisch wie Frau Gerber zu sein.

„Na ja. Leben und leben lassen, oder? Wir sind gestern mal dran vorbeispaziert. Die Baugrube ist ausgehoben und für das Fundament vorbereitet. Ich denke, dass es jetzt schnell vorangehen wird.“

            „Also ich habe da ja so meine Befürchtungen, bei so einer undurchsichtigen Gesellschaft.“

Erwartungsvoll blickte sie Stummel an, der die Augen verdrehte.

            „Undurchsichtig ist vielleicht nicht das richtige Wort. Eher unbekannt. Man sollte die Einladung zum Singen wahrnehmen, um sich ein Urteil bilden zu können? Ich bin kein Goldkehlchen, aber Sie mit ihrer Sopranstimme? Ganz ehrlich, Frau Leinenstoll: wagen Sie sich in die Höhle des Löwen. Sie werden bestimmt nicht gefressen.“

            „Keine zehn Pferde bringen mich dahin!“ rief sie entsetzt. „Ach du liebe Zeit, geben Sie ja auf sich acht! Die drehen sie auf links und nachher werden Sie noch zum Verfechter der Sache.“

 

In zwei Tagen war Ostern und Stummel hatte bei aller Aufregung im Ort nicht die Absicht, sich das Fest der Auferstehung verderben zu lassen. Dieses Jahr würde er nicht allein feiern, das hatte er einer sentimentalen Laune zu verdanken.

Am Ostersamstag stand Stummel stolz in der Küche und bastelte an seinem Menü. Dank der abendlichen Kochsendungen traute er sich die Lammkeule mit Speckböhnchen durchaus zu.

Am Sonntag war er zeitig auf. Er hatte Kirchendienst und war für das Glockengeläut und das Entzünden der Altarkerzen zuständig.

Atemlos kam ihm der Pfarrer entgegen: „Eine Katastrophe! Stellen Sie sich vor, der Organist ist von der Leiter gefallen. Unterarmfraktur! Wer soll den nachher spielen? Ein Ostergottesdienst a capella! Unvorstellbar!“

             „Ich muss nochmal weg!“, rief Stummel und ließ den Pfarrer mit seinem Problem stehen, der ihm fassungslos nachblickte. Die ersten Leute kamen ihm auf dem Vorplatz entgegen und er legte einen Zahn zu.

 

Zurück beendete er das Geläut und beobachtete den Pfarrer, der mit dem letzten Glockenschlag vor den Altar trat. Die Orgel erklang und Stummel grinste zufrieden, als der Pfarrer ihn erstaunt ansah. Er hatte Ben auf einer Bank am Friedhof gefunden und dieser war begeistert mitgekommen. Die Noten lagen allesamt am Instrument bereit und der begabte junge Mann spielte mit Inbrunst und völlig fehlerfrei.

Es war ein festlicher Gottesdienst. Der Pfarrer dankte den Mitwirkenden und beteuerte aufrichtig seine Wertschätzung an den unbekannten Organisten, der zweifelsfrei die Situation gerettet hatte.

Stummel nahm seinen Gast direkt mit nach Hause und zeigte auf sein Badezimmer.

            „Falls Sie sich frisch machen möchten, während ich mich um das Essen kümmere?“

Er öffnete eine Flasche Bordeaux, als Ben ins Wohnzimmer kam. Sein Gast war sichtlich gerührt als er den Mittagstisch sah.

„Frohe Ostern!“ Die Männer stießen feierlich an. Ben erwies sich als angenehmer Gesprächspartner, der durchaus akzeptable Meinungen vertrat. Nach dem Essen holte Stummel Whisky und Zigarillos.

            „Rauchen Sie?“

            „Nein danke, aber einen Whisky nehme ich gerne. Sie sind ein ausgezeichneter Koch. Ich habe lange nicht mehr so gut gegessen. Vielen Dank dafür.“

            „Und Sie sind ein begnadeter Pianist. Darf ich fragen, woher sie so gut spielen können?“

Ben schaute auf die goldene Flüssigkeit in seinem Glas, als würde er darin die Antwort finden.

            „Ich hatte ein Musikstudium begonnen“, sagte er leise. „Mit Nebenjobs konnte ich das gerade so finanzieren, aber dann ist meine Mutter an Demenz erkrankt und ich habe das einfach nicht rechtzeitig gecheckt. Ich meine, es ist doch normal, dass Leute mit dem Alter vergesslich werden?“

Er trank einen Schluck Whisky.

„Erst als sie mit dem Gasherd das Haus abgefackelt hat und ins Krankenhaus kam, wurde die Diagnose bestätigt. Alle Rücklagen waren im Nu weg, denn die Versicherung hat nicht gezahlt, weil sie vergessen hatte, die Raten zu überweisen. Sie starb an den Folgen einer Infektion. Der klägliche Rest ist für die Beerdigung draufgegangen.“                            

Stummel lauschte bestürzt. Bei Kaffee und Ostertorte wandten sie sich allgemeineren Themen zu und die Befangenheit löste sich auf.

Die Zeit verging wie im Flug und als es dunkel wurde, bot er ihm an, über Nacht zu bleiben, denn es würde bei klarem Himmel wieder frostig werden. Er hatte ein Gästezimmer, aber Ben wollte keine weiteren Umstände machen. Also machte er es sich mit seinem Schlafsack im Wohnzimmer gemütlich.

 

Am nächsten Morgen stellte Stummel fest, dass sein Besucher bereits verschwunden war, und in seinem Kopf schrillten sämtliche Alarmglocken. Soweit er sah, fehlte nichts, im Gegenteil auf dem Küchentisch lag ein Luftpolsterumschlag. Er öffnete ihn und schämte sich für sein Misstrauen.

Auf einer Osterkarte, wie sie im Dorfladen verkauft wurden, standen Worte des Dankes für das schöne Fest und das Vertrauen. Anbei sei eine CD als kleine Aufmerksamkeit, aus seiner Studienzeit.

            „Es war mir eine ganz besondere Freude“, sagte er in die Stille der Küche.

 

Er hatte darauf gehofft, Ben ein weiteres Mal zu treffen. Gerne hätte er sich für die CD bedankt, aber weder in der Kirche noch vor dem Einkaufsladen ließ er sich blicken. Schließlich fand sich Stummel damit ab, dass er weitergezogen war.

Er durchforstete die Post auf der Küchenanrichte, wobei ihm erneut die Einladung zum gemeinsamen Singen in die Hände fiel. Ein Treffen stand noch aus. Es war Zeit, sich selbst ein Bild zu machen.

 

Wie nicht anders erwartet wurde er samt Dackel, herzlich in den Reihen willkommen geheißen. Als die Singerei überstanden war, wendete er sich genüsslich dem kulinarischen Teil zu. Es gab heißen Apfelsaft und Gebäckteilchen. Auf dem Tisch stand ein Spendenkarton, in den er anstandshalber einen Fünf-Euroschein steckte.

Es war nicht schwer, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen, und Stummel hörte sich geduldig ihre Auffassungen an, die auf einem einfachen Leben beruhten, mit Schwerpunkt mittelalterlicher Traditionen und Mythen.

Waldi lag gelangweilt zu seinen Füßen, bis sich ein freilaufender Jack Russel näherte.

Stummel, in das Gespräch vertieft, hielt das Ende der Leine nur locker in der Hand. Waldi befreite sich mit einem Ruck und jagte dem Hund hinterher.

            „Lassen Sie die Hunde doch spielen“, sagte die Frau und schaute den beiden nach, die um die Ecke verschwunden waren. „Der Jacky tut nichts und läuft auch nicht vom Gelände.“

Stummel war sich nicht sicher, ob Waldi sich an die „Tut-nichts-Regel“ halten würde. Er machte sich auf die Suche und sah ihn von Weitem inmitten der Baustelle. 

            „Was um alles in der Welt trieb sein Hund da in der Baugrube?“

Waldi grub, wie ein Schaufelradbagger in der Erde, dass die Dreckklumpen nur so nach hinten flogen. Stummels Rufen ignorierte er stoisch und die Pfeife wollte er nicht einsetzen, um keine Aufmerksamkeit auf die peinliche Situation zu ziehen. Fest entschlossen seinen ungehorsamen Dackel im Genick zu packen und ordentlich zu schütteln, lief er los und erstarrte keuchend mitten in der Bewegung. Aus der Erde ragte eine Hand. Statt dem Genick des Hundes, schnappte er sich die Leine und zog ihn energisch von der Leiche weg.

Hatte ihn jemand beobachtet? Stummel verließ das Gelände und zückte vor dem Tor sein Handy. Die Einsatzfahrzeuge waren zehn Minuten später vor Ort.

 

            „Haben Sie uns angerufen?“, fragte der Kommissar. „Und es handelt sich um eine Leiche?“

            „Ja, ganz sicher. Mein Hund hat die Hand freigelegt.“

Während die Beamten den Tatort sicherten und die Spurensicherung den Leichnam ausgrub, musste er am Streifenwagen warten. Zu gerne wäre er an der Seite der Polizei geblieben, aber so reckte er den Hals, um möglichst viel zu erspähen. Es interessierte ihn brennend, um wen es sich bei dem oder der Toten handelte.

Eine Beamtin setzte sich mit ihm auf die Rückbank und nahm eine erste Aussage auf. Dann zeigte sie ihm ein Foto auf ihrem Smartphone und Inspector Stummel schnappte nach Luft. Er hatte ihn sofort erkannt: Ben Jarosch, seinen Ostergast.

 

Der Aufreißer prangte in fetten Lettern auf der ersten Seite der Tageszeitung: „Bauopfer im Fundament des neuen Gemeindesaales“

Der Artikel verriet, dass sich Bauopfer seit der Antike bis ins Mittelalter großer Beliebtheit erfreuten, da nach damaligem Glauben, der Einsturz des Baus verhindert und Schäden jeder Art ferngehalten werden sollten. Dabei wurden Menschen oder Tiere lebendig unter den Bauten vergraben. Stummel schluckte bei diesem Gedanken heftig. Ben war allerdings zuvor mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen worden. Die Ermittlungen liefen auf Hochtouren.

Erschüttert starrte Stummel auf die Pressemitteilung. Eine Träne tropfte auf den Artikel und ließ das Papier aufquellen. Es war unfassbar, dass sein Gast ein so schreckliches Ende gefunden hatte.

Durch seinen Auftritt beim Ostergottesdienst hatte der junge Mann die Herzen der Bürger für sich gewonnen. Die Baugrube war als Tatort gesperrt, deshalb hatte Stummel vor der Kirche ein Bild von Ben aufgestellt und ein Grablicht angezündet. Viele Gemeindemitglieder schlossen sich an und bezeugten ihre Trauer um den Verlust des begabten Pianisten. So erhellten bald zahlreiche Kerzen und Teelichter den Vorplatz. Im sonntäglichen Gottesdienst war Ben Teil der Predigt und Inspector Stummel spielte eines seiner Stücke, das er auf der CD ausgewählt hatte.